Mittwoch, 1. April 2009

Literatur: "Wahn" / "Duma Key" [Stephen King, 2008]


Stephen King ist wahrlich nicht mehr derselbe. Er ist wahrlich nicht mehr der aus früheren Jahren, zu Zeiten solcher Weltbestseller wie "Friedhof der Kuscheltiere" oder "Es", bei der er in erster Linie die Handhabung von Gewalt erforscht und vor expliziten Blutbädern nicht zurückgeschreckt hat. Seit seinem hochkomplexen Meisterwerk "Love", einer metaphorischen und anrührenden Geschichte über Blut und den Irrsinn der Liebe, lässt der neue (reifere) Stephen King die eigentliche Gewalt als solches außer Acht, stattdessen konzentiert er sich auf die Folgen von Gewalt. Das Zwischenmenschliche, das Innerste seiner Akteure, Gefühle wie Schmerz und Trauer, Verlust sowie Hoffnungslosigkeit und die daraus resultierenden Ängste beschäftigen von nun an Kings Interesse umso mehr. Und genau da macht "Wahn" konsequent weiter. Dabei darf konstatiert werden, dass "Wahn" in Kings Schaffen eher ungewöhnlich daherkommt. Der Horror hält diesmal nicht in des Autors bevorzugtes Maine Einzug, sondern im sonnigen und exotischen Florida, auf einer (fiktiven) Insel. In den ersten – ja, man möchte fast meinen – 600 Seiten, also einem guten Dreiviertel des gesamten Romans, schildert King einen Protagonisten, dem er viel Raum gewähren lässt. Einen reichen Bauunternehmer namens Edgar Freemantle.

All seine Sorgen, seine Schmerzen, sowohl körperlicher als auch seelischer Natur, seine innersten Sehnsüchte, ja sein gesamtes Leben offenbaren sich dem Leser. King schreibt über die Grausamkeit zwischenmenschlicher Entfremdung, etwa, wenn Freemantles Frau ihn verlässt. King erzählt über eine ungleich verteilte Liebe Freemantles zu seinen beiden Töchtern und über den Verlust seiner Mobilität. King schickt ihn deswegen auf eine einsame Insel, die eine dämonische Anziehungskraft auf ihn ausübt und in ihm gleichzeitig eine neue, bisher unbekannte Stärke wachruft: das Malen. Jenes Malen kann als eine Art therapeutische Hilfe interpretiert werden. So gleicht diese Geschichte um Edgar Freemantle einer vielschichtigen Charakterstudie, die von einem ambivalenten, aber durchaus liebenswürdigen Mann berichtet, der sich am Rande des Selbstmordes befindet, sich dann aber wieder ins Leben zurückkämpft. In der King zudem Autobiographisches seiner selbst verarbeitet – seinen eigenen Unfall von 1999.

Das hört sich alles ziemlich unspektakulär an. Ist es auch. Keine Monster, kein Blut, King hält sich mit diversem Horror-Schnickschnack de facto überraschend zurück. Warum also weiterlesen oder überhaupt anfangen? Vielleicht wegen der Erkenntnis, dass diese 600 Seiten mit so einer atmosphärischen Dichte, mit solch plastischen Figuren, mit solch wunderbar geschriebenen philosophischen Denkansätzen, mit solch einer ausgefeilten Spannungsdramaturgie und mit solch subtilem, aber niemals plakativem Horror auftrumpft, dass man sich schnell in einen regelrechten Wahn (Achtung: Wortspiel) hineinliest. Hier hat alles Hand und Fuß. Selbst die kurzen Einschübe in Form einer kleinen Anleitung Freemantles, wie man ein Bild zeichnet und wie er sich langsam an ein hochbegabtes junges Mädchen zurückerinnert, ist stimmig und fügt sich durchweg überzeugend in den restlichen Kontext der Handlung ein. Ohne unnötiges Konstruieren kann der Meister des Horrors hiermit gar an seine früheren Großtaten anknüpfen.

Doch King wäre nicht King, wenn seine Geschichten an einer bestimmten Stelle Einiges an Fahrt aufnehmen würden. Im Normalfall ist damit der Horror gemeint, der sich in all seinen Facetten allen Beteiligten in näherer Umgebung manifestiert. Und ja, auf den verbliebenen 200 Seiten des Buches nimmt die Handlung plötzlich eine unvorhergesehene Wendung dieser Art. War "Wahn" gerade zu Anfang fast durchgängig schaurig, aber bei weitem nicht blutrünstig, entwickelt sich jenes Buch auf den letzten Seiten zu einem regelrechten Alptraum, bei der King seine obligatorisch grotesken Kreaturen, ebenso wie ein gehöriges Maß an Blut und Gedärm aus seiner Mottenkiste, pardon, aus Edgar Freemantles Bildern herauslässt. Dass das schon in "Sara" nicht so richtig funktioniert hatte, funktioniert auch hier nicht.

King ist sich nicht zu schade, sämtliche Klischees des Genres irgendwo zu integrieren, sodass "Wahn" insbesondere gegen Ende zu einem platten, unoriginellen Klopper mutiert, der zudem reichlich wirr erscheint. Bei solch einer epischen Erzählung ist es zwar verständlich, wenn sich an bestimmten Stellen Längen herauskristallisieren – bei King dürfte das ohnehin bekannt sein –, aber gerade an eben jenem (tendenziell unbefriedigenden) Schluss wird das Buch, ungeachtet seiner anfänglichen narrativen Brillanz, schlicht langweilig und fad. Man fragt sich dabei ernsthaft, wann "Wahn" endlich seinen Schluss findet und ist es darüber hinaus leid, dass die Protagonisten von einer schrecklich vorhersehbaren Konfrontation in die nächste geraten, was an und für sich ja nicht unbedingt ein Problem darstellen würde, wenn besagte Situationen wenigstens nicht so zäh in ihrer Konzeption wären.

Schlussendlich ist festzuhalten, dass "Wahn" vor allem durch den verkorksten Horrorteil zwar nicht an den grandiosen "Love" anschließen kann, dieser über 800 Seiten lange Wälzer dennoch intelligente Leseunterhaltung der gehobeneren Art repräsentiert, bei dem sich der Meister des Unheimlichen unter anderem durch das gescheiterte Endzeitexperiment "Puls" nun endgültig wieder rehabilitiert zu haben scheint. Ein Roman über die Beharrlichkeit der Liebe auf idyllischem Eiland, ein cleveres Statement gegen das Literatur-Establishment, mit einer Intention, die sich dahingehend äußert, dass, wenn man Kreativität nicht vollends beherrscht, sie einem auch schnell wieder genommen werden kann.