Mittwoch, 27. Mai 2009

"Der unsichtbare Dritte" / "North by Northwest" [USA 1959]


"Der unsichtbare Dritte" von Alfred Hitchcock fühlt sich an wie eine aufregende Achterbahnfahrt der Gefühle, aber auch wie eine imposante Sightseeingtour quer durch amerikanische Landschaften, Mythen und Denkmäler. Mit Hitchcocks Lieblingsthema – nämlich der verlorenen Identität und dem unschuldig Gejagten – rennt unser tragischer Held und unglücklicher Werbefachmann Roger O. Thornhill alias George Kaplan in einer wilden Fluchtgeschichte von einer Katastrophe in die andere. Nur dass es sich dabei immer wieder um kleinere dramaturgische Höhepunkte handelt, die nahezu lückenlos aneinandergereiht werden; quasi ein Showdown spannt den Bogen zum nächsten (vgl. "Die 39 Stufen", "Saboteure"). Roger O. Thornhill (der ewige Seitenscheitel Cary Grant), er ist in jeder Szene präsent und steht stets im Mittelpunkt, er wird von Ort zu Ort gehetzt. Doch Hitchcocks spektakulärer Spionage-Thriller ist mehr als nur Verfolgungsjagd durch die USA. Er ist einer seiner witzigsten und zugleich intelligentesten Filme überhaupt. Ein rasantes kriminalistisch-komödiantisches Stationendrama, bei dem die unzähligen Minuten Spielfilmlänge zu purer, ja pausenloser Schau- und Hörlust verdichtet werden.

So brillant wie die knisternde Oberfläche des Films auch ist – Robert Burks' gemäldeartige Kamerabilder, Bernard Herrmanns hypnotischer Score, die teilweise kunstvollen Szenenübergänge (Anfangs- und Schlussüberblendung) –, so reiht sich in diese Brillanz ebenso das Drehbuch von Ernest Lehman ein. Samt erotisch-psychologischen Minidramen (in einer Agentenvilla eines wiederum imaginären Agenten oder im Speisewagen) und meisterlich getimten Wortgefechten (bei einer hyperventilierenden Auktion; eine der besten Szenen des Films) profitiert Lehmans Script und somit "Der unsichtbare Dritte" in erster Linie von seinen verblüffenden Wendungen, die den Zuschauer in die Irre führen, und von seinem sprühenden Sarkasmus. Er vereint sämtliche Elemente, die des Altmeisters frühere Filme ausgemacht haben: Suspense, Geheimnisvolles, Turbulentes, heiteren Humor (und davon nicht zu wenig) und, davon abgesehen, eine Liebesgeschichte einschließlich latenter Erotik und Sex. Und das alles vor dem Hintergrund so berühmter Monumente wie dem UN-Hauptgebäude (aufgrund des Filmverbots hat Hitchcock mit versteckter Kamera gedreht), der Grand Central Station und dem Mount Rushmore National Memorial, die lustvoll-ironisch in die Handlung hineingerissen werden.

Trotz alledem führt uns Hitchcock in keinem anderen Film hinters Licht wie in diesem. Da gibt es beispielsweise die plakatbeherrschenden Actionsequenzen. Wer erinnert sich nicht an die berühmt-berüchtigte "Maisfeldszene". Oft referenziert und kopiert, aber nie erreicht. Und das, obwohl erst nach geschlagenen, zu äußerster Spannung getriebenen, endlosen Minuten etwas passiert; in denen ein über den Augenblick verwirrender Cary Grant, der stolze Kosmopolit, von einem Insektenvernichtungsflugzeug mitten in der Einöde gejagt wird und um sein Leben wie um den Weltmeistertitel rennt. Ohne Musik, auf friedlicher, geradezu harmloser Gegend, mitten in der Sonne. Wo kann sich unser Protagonist demnach verstecken? Hitchcock konterkariert hier mit dem Flimklischee, dass ein bedrohlicher Mord gleichzeitig immer in bedrohlicher Umgebung und unübersichtlicher Szenerie stattfinden muss. Eine außergewöhnlich absurde und unwahrscheinliche Szene, in epischer Länge sowieso, mit einigen Westerntönen vorgetragen, aber von großer Könnerschaft in Szene gesetzt. Aber auch die Sequenz, als der Chef der Spionageabteilung Thornhill über seinen weiteren Plan aufklärt, der Zuschauer jedoch angesichts des Motorenlärms (die Szene spielt auf einem Flughafen) davon nichts mitbekommt, suggerieren einmal mehr die Tatsache, dass es in "Der unsichtbare Dritte" viele kleine Momente ohne existierende Zeit und wahrnehmbaren Raum gibt, die für sich allein stehen – und die den Einfallsreichtum der Regie widerspiegeln.


Cary Grant indes verkörpert den ahnungslosen Werbefachmann, über den jegliche Sicherung zusammenbricht, charmant, vital und quirlig auf seine ganz originäre Weise, der in einen Strudel aus (Lebens-)Gefahr gerät und nicht weiß, wie er wieder herauskommen soll. Ein einfacher Werbefachmann, der einige der aberwitzigsten Mordanschläge überlebt, die in Hollywood je verübt worden sind. Ein cleverer Unwissender de facto, der stets am Flüchten ist, stets am Protestieren, stets einen kecken Spruch über die Lippen bringt, stets auf der Suche nach der Wahrheit. Und der schlussendlich erwachsen wird und dementsprechend sein persönliches Ziel erreicht. Hinzu kommt in Gestalt von Eva Maria Saint eine ungemein attraktive Frau (natürlich blond), die ihre erotische Anziehungskraft und ihr Geschick in brenzligen Situationen geschickt einzusetzen vermag, ebenso wie James Mason als kühler und hartgesottener Antagonist, als Gangster mit Format, dem nichts so schnell aus der Ruhe bringen kann, und der mit dem jungen Martin Landau über einen adäquaten Handlanger verfügt.

Somit bleibt ein ohne Zweifel wegweisender (in Bezug auf nachkommende "James Bond"-Filme etwa), erfrischender und über alle Maßen unterhaltsamer Film, sprich: ein fabelhaftes Verwirrspiel, übrig. Dieses siedelt sich irgendwo zwischen Thriller, Abenteuer und Kriminalkomödie an und bringt alle Elemente mit, die ein Garant für ein kurzweiliges, für ein leichtes Sehvergnügen sind. Das ist es eben, was man einen Klassiker nennt. (Aufgepasst: Die sexuelle Metapher im Schlussbild könnte geistreicher nicht sein.)

8 | 10