Dienstag, 1. Februar 2011

Literatur: "Shining" / "The Shining" [Stephen King, 1977]



Im Vorwort zur Geschichte "1408" im 2002 erschienenen Kurzgeschichtenband "Im Kabinett des Todes" erläutert Stephen King, dass jeder Verfasser von Gruselgeschichten mindestens eine über ein Hotelzimmer schreiben solle, in dem es spukt, und mindestens eine über "vorzeitige Beerdigungen". Vor "Shining" hatte King bereits eine andere inflationär wiedergekäute Form des Horrors abgehakt, die des Vampirs. Sein allererster Roman "Carrie" hingegen ist die experimentierfreudige, feminine Hellseher-Lightversion des in Breite und Höhe deutlich überlegeneren, maskulinen "Shining", des Autors persönlicher Abrechnung mit dem Wahnsinn und einem Hotel, in dem es spukt. Daneben gesellt sich "Shining" zu jenen ausformulierten Werken Kings früh geprägter Vorliebe, grauenerregende Dinge aus trivialen Alltagsfantasien entstehen zu lassen.

King schreibt im gleichen Vorwort zur gleichen Geschichte weiterhin, dass Hotelzimmer etwas von Natur aus Unheimliches hätten. "Shining" formuliert die These anders: Hotels an sich sind von Natur aus unheimlich. In Ihnen schlummert ein von Natur aus mystischer Charakter majestätischer Endlosigkeit. Sie symbolisieren einen Irrgarten kahler Wände, karger Räume, verschlossener Geheimnisse, dunkler Vergangenheiten, mysteriöser Todesfälle. Nie ist klar, wie viele Menschen im jeweiligen Hotel im gleichen Zimmer geschlafen haben, wie viele darin an ihrem Verstand zerbrochen sind, wie viele an undefinierbaren Neurosen litten, die sie schlussendlich in den Wahnsinn, zu Stuhl und Strick und vielleicht sogar in die überflutete Badewanne, trieben. Im Overlook summieren sich all diese Schreckgespenster zu angsteinflößenden vier Wänden, die zum Leben erwachen, atmen und sich das holen, was die innere Ruhe zu stören beginnt.

Der am meisten geäußerte Vorwurf gegenüber dem "Shining"-Roman ist der, dass Stephen King zwischenzeitlich immer wieder in eklatante Ausschweifungen verfalle, wodurch Figurencharakterisierungen vermutlich nirgends so überdehnt würden wie hier. Tatsächlich beleuchtet King zunächst über hunderte von Seiten hinweg das wechselvolle Leben der Familie Torrance, arbeitet mit Rückblendenexplosionen und Erinnerungsfetzen, familiären Grausamkeiten wie einschneidenden Ereignissen, die offenen Wunden gleichkommen, die sich niemals verschließen werden. Zu diesem Zeitpunkt ist "Shining" weniger Horrorlektüre, sondern die soziologisch-psychologische Demontage einer amerikanischen Durchschnittsfamilie, die am (wirtschaftlichen) Abgrund entlangschrammt und doch hineingezogen wird. Die Exposition, nebenher das Genre des Melodrams maßlos plündernd, muss als Ursprungsquelle für den späteren seelischen Totalschaden der Torrances im Hotel herhalten. Damit werden das Grauen und dessen Beweggründe rational nachvollziehbarer als in Stanley Kubricks von Kings Vorlage stark emanzipierte Filmadaption.

Erstes Kapitel, Einstellungsgespräch, erster Satz: "Schmieriger kleiner Scheißkerl". Gemeint ist Stuart Ullman, der in schwarz gekleidete Hoteldirektor (der Farbe des Todes, der Trauer; womöglich ein Ausblick auf kommende Zustände). Ein Gedanke von Jack Torrance, der seinen kompletten Charakter ohne Umschweife konsequent auf den Punkt bringt. Jack Torrance ist ein manisch-depressiver Collegedozent. Er muss ständig mit chronischen Alkoholproblemen kämpfen, mit unkontrollierten Aggressionen, die sich fast pausenlos an seiner Familie entladen, so lange bis er seinem Sohn Danny in Ekstase den Arm bricht und einen ehemaligen Schüler verprügelt, nachdem er die Reifen von Jacks Auto zerstach. Jack ist, so gesehen, die umgedichtete Antithese zum treu sorgenden, heldenhaften Familienvater.

Angesichts beider Wutausbrüche, einschließlich den Entschuldigungsmaßnahmen, die zwischen Reue und Kontrolle changieren (immerhin scheint er seine Familie in den wenigen nüchternen Momenten, die er hat, innig zu lieben), dokumentiert King auf den ersten Seiten sehr treffend den Hass Jacks und die permanente Lust am Selbstzerstören. Aber auch die Hilflosigkeit, sich als Familienoberhaupt durchzusetzen, wenn der Alkohol ruft und die (Alkohol-)Fahne gehisst wird, ebenso wie die scheiternden Versuche, als Nachwuchsautor einer vielversprechenden Beschäftigung nachzugehen, mit der er ans prestigeträchtige Literaturetablissement anknüpfen könnte, um somit den sozialen Abstieg vorerst zu verzögern. Stattdessen flüchtet Jack vor der Wirklichkeit mitten hinein in einen Alptraum. "Shining" erzählt auch über Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung, die aufgrund Jacks zahlreicher Psychosen aus der Gegenwart und Dämonen der Vergangenheit letztendlich nur Chaos heraufbeschwören.

Jacks Frau, Wendy, agiert als traditioneller Frauentypus Stephen Kings: weinerlich und naiv, dann verletzlich und plötzlich selbstbewusst, durchlebt sie einen Reifeprozess im Angesicht der Agonie. Wendy ist ein Mensch, "der in tiefste Dunkelheit gezerrt worden und aus ihr wieder herausgekommen war, um die Scherben aufzusammeln". King beschreibt sie als eine hin- und hergerissene Person, hin- und hergerissen zwischen der Liebe und der Verachtung zu ihrem Mann, hin- und hergerissen zwischen der Wärme und der Verachtung zu ihrer Mutter (bei Jack ist es genau andersherum), hin- und hergerissen zwischen der abgöttischen Liebe und dem unbegrenzten Mitleid zu ihrem Sohn, der diese Liebe nur selten erwidert und sich den fleißigen Bemühungen seiner Mutter zum Trotz eher zu Jack hingezogen fühlt. Oder zu Tony, Dannys "unsichtbarem Freund".

Aus Danny, der an telepathischen Fähigkeiten, surrealen Vorahnungen, dröhnenden Visionen und blutgetränkten Träumen leidet, destilliert King zu großen Teilen seinen willkürlich-absurden Humor, insbesondere wenn Danny Gedanken fremder Menschen hört, obwohl er sie wegen seines Alters nicht sinngemäß verstehen kann und deshalb allzu wortwörtlich nimmt ("Als sie ihn beobachtete, dachte sie, dass sie ihm gern an die Hose wollte, und ich habe mir überlegt, warum…"). Ungeachtet dessen wird der Leser frühzeitig damit konfrontiert, dass Danny der einzige Akteur sein wird, der zuerst bemerkt, dass irgendetwas mit dem Hotel nicht stimmt, nicht stimmen kann, nicht stimmen darf, weshalb er lediglich seiner Eltern zuliebe jene "Erholungsreise" antritt. Auch bei ihm spiegelt sich die innere Zerrissenheit (ein weiteres zentrales Motiv der Handlung); hin- und hergerissen darüber, ob er Tonys pessimistischen Schreckensbotschaften Glauben schenken mag oder nicht.

Jener Hauptteil, aus dem sich der grundlegende Horror eines fälschlicherweise als Horrorbuch kolportierten Romans speist, illustriert King höchst ökonomisch. Zuerst sind es unterschwellig obszöne Wahnbilder vergangener Grausamkeiten des Hotels, die das Gehirn Dannys, später aber auch das Gehirn Jacks überschwemmen. Zusammen mit dem zunehmend totalitären Szenario, wo sich die Torrances bar jedweder Kommunikationsmöglichkeit gen Zivilisation lediglich zwischen dem weißen Tod draußen und dem "Overlook-Tod" drinnen entscheiden können und voneinander menschlich abhängig sind, evoziert "Shining" sein nervenzerreißendstes Angstgefühl dann, wenn King mit Fingerspitzengefühl subtile Thriller-Buhs divergierender Wahrnehmungsebenen aufschichtet, wenn das Hotel raschelt, klappert, klimpert, rauscht, pfeift, summt, poltert, wenn es aufwacht, wenn es lacht, wenn es lebendig wird, wenn es ein "Stimmengewirr der Konversation" einer illusorischen Partygesellschaft aneinanderreiht (Kings Kniefall vor Edgar Allen Poe), wenn sich ein Feuerwehrschlauch auf die Lauer legt und wenn der Fahrstuhl von ganz allein nach oben und nach unten rauscht.

Diametral dazu flüchtet King aber auch öfters in aufgesetzte Plattitüden. Er muss sich durchaus zu Recht den Vorwurf gefallen lassen, ob Heckentiere, ob ein Schwarm Bienen und ob eine tote Frau im Bad hinter dem Duschvorhang eines obskuren Gruselzimmers (freilich die noch mit am spannendste Sequenz) eher unfreiwillige Komik, statt maximale Angststeigerung generieren. Zum Ende hin weiß King mit dem Holzhammer ohnehin zunehmend stärker zu schocken (DROM = MORD, eine in der deutschen Fassung geradezu platte Wortspielauflösung). Auch der angedeutete Überlängen-Vorwurf kann King nicht vollkommen kaschieren. Hier und da vermag er künstliche Aufblähungen in die Handlung zu implementieren. Der Arztbesuch Dannys ist ein Beispiel (der ohnehin nichts Substantielles über die absonderlichen Fähigkeiten des Jungen per se offenbart), die für King obligatorische Parallelmontage in Form eines blutigen Überlebenskampfes einerseits und Dick Hallorans zittriger Autofahrt andererseits ein weiteres.

Abseits aller selbstverliebt redundanten Ausschmückungen der Narrative zählt "Shining" vor allem zur Riege der besonders doppelbödig codierten Metalektüre Stephen Kings, der seinem Hotel entweder sozialkritische oder metaphorische Lesearten injiziert. Obgleich King durchblicken lässt, dass das Hotel wohl nur auf der entscheidenden Jagd nach Danny sein könnte und seine Vaterfigur dafür instrumentalisiert wird (gleichwohl wird dieser Gedanke nicht weiter vertieft), repräsentiert das Overlook vielmehr den hässlichen Spiegel für die hässlichen Seiten der Familie Torrance, die allesamt in ihre lange vorher verdrängten Sünden, in ihre Sehnsüchte und Genüsse zurückfallen.

Exemplarisch Jack: Jack wird von Lloyd dazu gezwungen (in zwei, drei wunderbar burlesken Dialogen), wieder mit dem Trinken anzufangen, verfällt seiner Schreibblockade, schlägt seinen Sohn, beschimpft seine Frau grundlos. Jack sieht sich einer psychischen Metamorphose von innen ausgesetzt, die ihn zerstören wird. Das Hotel als Maskenball, in eine andere Identität, in ein anderes Kostüm, dem Jack-Kostüm, schlüpfend, bis zum apokalyptischen Wettlauf gegen die Zeit nach der emotionalsten Momentaufnahme des Romans, wo sich Vater und Sohn Auge in Auge verabschieden, ehe die Metamorphose Jacks kulminiert und von nun an vom "Es" gesprochen wird.

Wohingegen der sozialkritische Tenor aus der von Jack gefundenen Sammelmappe resultiert, anhand derer das Hotel als eine Art Metapher für Amerikas omnipräsente Makel interpretiert werden kann. Die Sammelmappe, wahrscheinlich vom letzten Hausmeister, Delbert Grady, verfasst, gibt Aufschluss darüber, mit welchen zwielichtigen Existenzen das Hotel in den letzten Jahren verkehrte, mit Nadelstreifengangstern, mit Wirtschaftsmagnaten, mit windigen Politikern, die sich in der Präsidentensuite entweder gegenseitig abknallten oder das Overlook durch Korruption, intrigante Machtspielchen und überhöhte Kredite künstlich am Leben ließen, bis rote von schwarzen Zahlen allmählich abgelöst wurden.