Dienstag, 16. Oktober 2012

"Roter Drache" / "Red Dragon" [USA 2002]


So unglücklich die Wahl des Brett Ratner für Thomas Harris' mehrschichtigsten Roman wirken mag, so souverän adaptiert er die Handlung ohne Risiko zum Kassenschlager. Vielleicht ist das ja sein Problem. Denn in seinem Verlangen, der Vorlage möglichst genau auf den Grund zu gehen, indem er sich Seite per Seite an sie festbeißt, lässt Ratner die Konsequenz vermissen, sich vielmehr Zeile per Zeile heranzutasten, wodurch die stärksten Motive des Romans zugleich am schwächsten in dessen Verfilmung abgekanzelt werden. So hätte es nicht geschadet, die faszinierende Francis-Dolarhyde-Figur (Ralph Fiennes) einer ambivalenteren Prägung zu unterziehen. Dolarhydes sadistische Erniedrigungen seiner Mutter aus Kindheitstagen sind essentiell für die Geschichte, ein Ärgernis, dass Ratner sie nur streift.

Auf Mainstreamkino zugeschnittene Metaebenen wie den durch Spiegelscherben allegorisch aufgeladenen Kampf zweier gleichermaßen unnachgiebigen wie angstheraufbeschwörenden Jäger werden abgeschwächt, das Leidthema Harris' mittels sowohl objektorientierter als auch seelischer Reflexionen des Sehens und Gesehen werdens über sein eigenes Dasein und dem anderer zu richten, popcorntauglich verarbeitet. Macht aber nichts. In dem, was unterhaltsam sein soll, ist der rote Drache sehr unterhaltsam – und ungeheuer spannend, forensisch schier fesselnd. 

Dabei dirigiert Ratner nicht etwa aus dem Schatten Jonathan Demmes und probiert ausschließlich von dessen Vorschusslorbeeren, sondern verquickt das Original Michael Manns (für die Bilder zeichnet sich Manns Stammkameramann Dante Spinotti verantwortlich) mit dem von Demmes Kultfilm auf augenzwinkernde Weise in teils identischen Einstellungen (etwa des Ermittlers Gang zu Dr. Hannibal Lecters Zelle) und Wiedersehensveranstaltungen zotiger Figuren aus den Vorgängern (Anthony Heald, Frankie Faison) des selben Drehbuchautors (Ted Tally), der die Allerweltsgeschichte vom gesellschaftlich zurechtgekneteten Monster als Basis für allerlei deformierte Geister zweckentfremdet.  

 
Ungeachtet des schwarzhumorigen Prologs eines besonders schmackhaften "Festmahls" gefällt hingegen das Augenscheinlichste, die Besetzung nämlich, für die Ratner große Namen mit einprägsamen Köpfen gewinnen konnte. Wenngleich in den grundlegendsten Positionen Edward Norton recht hölzern seine inneren Narben vergessen lassen will, Emily Watson im Rahmen ihrer Möglichkeiten handelt, Harvey Keitel den Autopiloten sympathisch anschmeißt, ohne Neues hinzuzuerfinden, und Philip Seymour Hoffman reichlich lückenfüllerhaft dazwischen gequetscht wird, spielt in erster Linie ein missgestalteter Ralph Fiennes zwischen Verletzlichkeit, Abgestumpftheit und Todesangst, jenseits von Fleisch und Wille, alles in Grund und Boden, was sich ihm in den Weg stellt.

Mit dieser gebrochenen Figur erlaubt sich Ratner bizarre Scherze, zum Beispiel dann, wenn er den Reporter eines Revolverblattes (Hoffman) unter Dolarhydes Aufsicht halbnackt an einen Rollstuhl kleben lässt, oder mit einer blinden Arbeitskollegin (Watson) eine kurios diametrale, dennoch in ihrem Wesen grotesk parallele Beziehung zusammenschraubt: Er, der von der Schönheit geblendet und doch der Hässlichkeit verdammt ist, sie, die weder Schönheit noch Hässlichkeit sehen kann, beide um Respektierung einander bemüht und falschem Mitleid enthoben. Daraus definiert der Film seine gesonderte Komplexität und geht mit Harris' doppelter Ebene stimmig konform.

Fiennes verkörpert derart eindringlich, dass ausgerechnet Anthony Hopkins vor Neid erblasst. Recht so – nicht zum ersten Mal hat Lecter außer den obligatorischen Stilblüten viel zu nerven, aber wenig zu melden. Dies bestätigt die Entwicklung aus Scotts "Hannibal", wonach sich der Zuschauer fragen muss, ob es einen angestrengt daher brabbelnden Kannibalen unbedingt noch ertragen muss, wenn der Mittelpunkt des Films doch ein anderer ist. Hätte Tally den Mut von kommerziellen Interessen abzuweichen, er hätte Hopkins weniger, gleichwohl punktgenauere Szenen geschrieben.  

6 | 10