Dienstag, 22. Mai 2012

"Lolita" [USA, GB 1962]


Vorhang auf. Wahrlich bezaubernd und zärtlich, lieblich, lyrisch, leidenschaftlich, launisch, locker. Alle Beteiligten instrumentalisieren Liebe, betrügen und betrügen sich, während sie ein Strudel der Egozentrik in den Abgrund reißt, Neigung zu Obsession zu Katastrophe wird. Faschingsparade und Theaterstück, Satire und Rollenspiel, innerer Gefängnisfilm und äußerliches Sittenbild, Kubrick auf Meisterschaft, 37 Jahre vor "Eyes Wide Shut". David Lynch bezeichnete jene sinnlich vergiftete Frucht des Begehrens aus dem Garten der Begierde mit dem sinnestaumelnden Namen "Lolita" mehrmals als seinen persönlichen Lieblingsfilm. In der Tat: Im Verhältnis von eigenbrötlerischer Vorstadt-Groteske ("Twin Peaks"), surrealem Fassadeneinsturz ("Mulholland Drive") und tief bewegendem Noir ("Blue Velvet") nimmt Kubrick Motivkonstanten des verschwurbelten Alptraumkonstrukteurs vorweg. Freilich ein Film, über den sich so manche detaillierte Psychoanalyse, auch unter dem Schwerpunkt der tabuisierten Pädophilie unter Betrachtung der damaligen gesellschaftlichen Konventionen, schreiben ließe (siehe Seeßlen). Der Leitsatz einer Verfilmung eines unverfilmbaren Romans war indes der: "Kein Sex!" Folglich bleibt es in den anzüglichsten Szenen beim geflüsterten Wort, bei verschlüsselten Berührungen, bei zweideutigen Dialogen des Gesagten, aber nicht Gemeinten, bei abgetrennten Montagen, die ganze Zeit über. Die drei Buchstaben hängen schwermütig im Raum, an den Lippen, im Ohr, am Zehennagellack, allein, sobald sie greifbar scheinen, lösen sie sich in stumme Vokale auf und schweben davon. Skandalös! Trotzdem. Und über allem der dunkle Schleier der Selbstzerstörung in den harmonischsten Augenblicken, weil mit dem unheilbringenden Ende begonnen wird. Kubrick transformierte Nabokov in ein gewagtes, da freizügiges Experiment voller Doppelgänger und Täuschungen mit sterilen wie skurrilen Figuren, entfesselten Dialogen und absurdem Slapstick. Gleichfalls ein Leitsatz: Wollen, nicht bekommen dürfen. Mason (der Papa), Lyon (die Freche), Winters (die Waffenbestückte) und Sellers (das Chamäleon) spielen wie im Rausch den von Tragik bevölkerten Weg zum metaphorischen Einschussloch des verdorbenen Früchtchens. Vorhang zu. 

8 | 10