Mittwoch, 3. Januar 2018

"The Killing of a Sacred Deer" [IRL, GB 2017]


Was ist hier eigentlich "sacred" – heilig? Colin Farrells Hände. Es sind typische Medizinerhände, wie ihnen Alicia Silverstone mehrfach voller ehrfürchtig lethargischer Hypnose schmeichelt. Sie meint die Hände jenes Chirurgen, den Farrell spielt: Steven Murphy heißt er und er hat, zugegeben, schöne Hände. Vieles an Murphy ist schön, glatt, wohltemperiert: der Bart, das Haar, die Behaarung, die Bewegungen, die Fassung. Colin Farrell ist quasi erwachsen geworden, während Steven Murphy Arzt sein muss; er muss in einer Umgebung schalten und walten, die das architektonische Äquivalent zu seiner physischen Autorität bildet, eine Umgebung aseptischer Perfektion und weißgetünchter Strenge, eine Umgebung der, es wirkt fast so, futuristischen Kahlheit: nicht weniger als um eine Krankenhausumgebung handelt es sich hier. Wenn Murphy die Gänge dieser Monumentalklinik durchschreitet, dann ist alles unter Kontrolle, ein Schritt nach dem anderen, die Kamera bewegt sich vor ihm zentral, um keinen Schritt zu verpassen, keinen Herzschlag. Aber irgendwann muss diese karge Ästhetik und ästhetische Kargheit entblättert, muss fragil werden, muss die Lüge offenbaren. 

Was Giorgos Lanthimos über das Farb- und Einstellungskompositionsprinzip der Bilder vorbereitet, steigert später den Effekt fiebrig-skurriler Nichtkontrolle, umso unausweichlicher die moralischen Fallstricke werden, in die Murphy sich verstrickt. Anfangs ist das Band stark zwischen der Familie Murphy, der Berufung, der sich beide Murphys (als Ehefrau: Nicole Kidman) widmen, der familiären Hierarchisierung, der Rollenverteilung, der Aufgeräumtheit nicht nur architektonischer Staffelung (im Haus der Murphys sind selbst die freien Nutzflächen einem ausgestalteten Plan unterworfen), sondern eben auch im sozialen Raum. Wer was aus welchem Grund macht, ist jederzeit nachvollziehbar, da es sich stets in den normativen Gewohnheiten des einen wie des anderen Familienmitglieds spiegelt. Erste Irritationsmomente sind dabei zu vernachlässigen: Die Familie, insbesondere die Kinder (Raffey Cassidy, Sunny Sulic) sprechen das aus, was sie denken. Den Bezug der Brüchigkeit, wie sich das Normale und Normalisierende spalten und gespalten werden, erreicht Lanthimos abermals über das abstrakt Gesprochene. Ein wenig komisch, ja putzig ist das, zunächst. 

Eine "Dogtooth"-Familie ist die Familie der Murphys trotzdem nicht. Erst mit dem Auftauchen des von der Genrehistorie bis heute in allen möglichen Varianten allegorisierten "Eindringlings" (Barry Keoghan) wird die Architektur, die Sprache absurd, schief, beängstigend. Plötzlich bekommen die Dialoge um das Präsentieren von Achselhaaren und um das Lobpreisen "schöner" Körper etwas Ordinäres, Furchterregendes. Ab diesem Zeitpunkt überbrückt Lanthimos das Alltägliche mit dem Dämonischen, interpretiert eine amerikanische Kernfamilie zu einem Hort fatalistisch-kosmischer Verhältnisse um. Wie in Lanthimos' vorherigen Filmen reicht die Sezierung von Beziehungs-, Körper- und Geschlechterstrukturen unter dem Eindruck paradoxer Deformationen so weit, dass an deren Ende der Mensch sich tragisch verklausuliert. Der akkurate Aufbau einer Atmosphäre, die nach totalem Regiment strebte, bricht in diesem Film sukzessive in sich zusammen, und jeder Blutstropfen (aus der Nase), jede abstoßende Beißattacke, jedes übernatürliche Pfand, das eingefordert wird, befeuert die Auflösungserscheinungen der hermetischen Welt und heiligen Familie. 

Aus "The Killing of a Sacred Deer" spricht Schuld, spricht Sühne, gehen Menschenmarionetten hervor, die angesichts ihrer Uneinsichtigkeit gegenüber früheren Verfehlungen – Steven versaute alkoholisiert eine Operation und hatte damit das Leben seines Patienten auf dem Gewissen – zum Spielball höherer Mächte werden. Denn zwischen Mensch und Raum, etwa an Stevens Arbeitsort, existieren abnorme Flächen der Leere. Wenn Martin (Keoghan), der Eindringling, an Steven eine Todesmystifikation knüpft, dann beobachtet Lanthimos vergnügt die rachsüchtigen Eskalationsstufen eines Verlustes – es war Martins Vater, der auf dem Operationstisch Stevens starb. Ob der Film eine Moral oder gar eine ethische Reflexion anbietet, kann dabei weder bejaht noch verneint werden. Gleichwohl stellt die Geschichte unter Beweis, wie schnell Scheinwahrheiten die Last ihres Anstriches verlieren können. "The Killing of a Sacred Deer" erweist sich als Pandämonium anthropologischer Beherrschung. In jedem einzelnen Bild geschmackvoller Unverdorbenheit, in jeder Pore, in der die Wissenschaft das Magische zu überholen glaubte, lauert jedoch ein verhängnisvoller Narzissmus.

7 | 10