Dienstag, 21. August 2012

Serien: "Lost" [USA 2004-2010]


Sehen wir davon ab, dass "Lost" im Finale tatsächlich die große, geheimnisvolle Antwort auf die größte, geheimnisvollste aller Fragen in einer humanistischen Religionsallegorie gibt, nämlich, wohin diese Serie steuern, was sie uns mitteilen, womit und weshalb sie unsere Gegenwart und Zukunft reflektieren will: Wer "Lost" ernsthaft in dem Bestreben angesehen hat, jemals alles auf dem Präsentierteller vorgesetzt zu bekommen, dessen kausaler Zusammenhang sich nicht sofort erschließt, der hat weder die Mythologie der Serie, das ihr zugrundeliegende Konzept noch die Intention ihrer Schöpfer verstanden. 

Zunächst ein gewagter Vergleich, aber "Lost" weist Parallelen zu "Twin Peaks" auf. Denn beide, obschon sie unterschiedlich dramatisieren – die eine aus dem Drehbuch heraus, die andere mit assoziativen Codes – und in ihren eigenen Quellcode-Universen wiederum eine eigene verschlüsselte Programmiersprache herauszufiltern gedachten (wahrscheinlich die eine mehr als die andere), verdichten sie ihre Geschichte nach einer ähnlichen Maxime. Das Irrationale – sowohl die Insel als auch die Hütten – fungiert vielmehr als handlungsvorantreibender MacGuffin, um zuallererst Menschen zu porträtieren. Ist es dann so überaus überraschend, dass das Irrationale wie in "Lost" irrational bleibt und die Menschen bis zuletzt in den Mittelpunkt gedrängt werden?

"Lost" hausierte seit jeher als Charakterserie, nicht als Kreuzworträtselserie mit den Auflösungen auf der nächsten Seite, Ecke rechts unten. Wenn wir das wollen, genehmigen wir uns andere Serien, aber falls wir uns "Lost" zuwenden, erfahren wir Existenzielles von zerrütteten Menschen, die anhand befremdlicher Ereignisse nie wieder diejenigen sein werden, die sie vorher waren. Nicht, dass sich einer beim Geschenke aufreißen über den Inhalt nachher ärgert. Exemplarisch dafür das letzte dichterische Bild dieser Serie. 

Da liegt er nun, Dr. Jack Shephard (Matthew Fox), blutend, erschöpft, halbtot, sein Auge schließt sich, das finale, das ikonische Augensymbol; er ist im Begriff zu sterben, während er im zweiten Erzählstrang auf dem Flughafen des Fegefeuers darauf wartet, abzufliegen und nicht abzustürzen. Hier spiegelt "Lost" seine Anfänge und stellt der allerersten Szene der allerersten Folge der allerersten Minuten eine nahezu identische gegenüber, klammert sie ebenso narrativ wie staffelübergreifend. Und eins wird ganz deutlich: Die Bestimmung dieser Serie liegt in ihrer warmherzigen Jack-Figur, die auf der einen Seite zum Glauben konvertiert und auf der anderen zu einer wunderbaren Erkenntnis gelangt: Unter dem Sinn des Lebens verstehe man auch die Poesie von der Kraft der Erinnerung dank der intimen Berührung eines geliebten Menschen, den zu vergessen man sich nicht leisten darf.


Darüber hinaus ist "Lost" eine Serie, angesichts ihrer regen virtuellen Zuschauerbeteiligung vermutlich die erste wirkliche Web-2.0-Serie, die spielerisch mit ihrem prallgefüllten Sammelsurium an intertextuellen Verweisketten umgeht, erzählerisch zwischen den Welten experimentiert, Glaube und Wissenschaft, Spiritualität und Rationalität, Rache und Vergebung argumentativ unterfüttert und very meta zum Schmunzeln animiert, sodass sich "Lost" stets im selben Glauben festhält wie seine Protagonisten, sich immer wieder weiter entwickeln zu müssen. 

Man erinnere sich an Desmonds (Henry Ian Cusick) Einführung per Plansequenz zu Beginn der zweiten Staffel, an Dr. Juliet Burks' (Elizabeth Mitchell) per Cliffhanger zu Beginn der dritten sowie der Einführung jener Vorausblenden, die dem dritten Staffelfinale dem unvorbereiteten Zuschauer den Boden unter Füßen wegzureißen drohen. Oder an die Momente, in denen selbstreferentielle Gags kaum pointierter erzwungen worden waren, so, als Hugo "Hurley" Reyes (Jorge Garcia) im Jahr 1977 ein modifiziertes Script George Lucas' in der Planung steckendem Sequel zum Sternenkrieg schreibt. Oder an die immens makabren, an die verteufelt spitzzüngigen, wenn Nikki und Paulo (Kiele Sanchez, Rodrigo Santoro) lebendig begraben werden, um sie, die bekanntlich sowieso die Rolle der Gaststars übernommen haben, möglichst sarkastisch abkratzen zu lassen.

Jede Staffel bietet für sich unerschöpflich gescheite Abwechslung, weil unsere authentischen Figuren über 120 Episoden lang durch Zeitreiseparodoxien, Robinson-Crusoe-Szenarien, Raum-Zeit-Gefüge, Rauchmonster, ägyptisch-buddhistische Metaphorik, persönliche Niederschläge und unpersönliche Sonnenstrahlen watschen müssen; hin zum Glück, hin zum Leid, hin zum Paukenschlag, hin zum "Lost"-Schriftzug, dem berühmt-berüchtigt surrenden. 

"Wir sind nicht tot, aber Teil einer Gemeinschaft, die sich aufeinander verlässt, und wir hatten eine unglaubliche, erinnerungswürdige Erfahrung mit lauter Fremden." 

8 | 10