Dienstag, 27. November 2012

"Shining" / "The Shining" [GB 1980]

Dadurch, dass ich die literarische Vorlage in- und auswendig kenne und die Unterschiede beider Medien beträchtlich, sprich: hochinteressant, sind, konnte ich es mir nicht nehmen lassen (zumindest in den ersten beiden Absätzen vermehrt), auf diese einzugehen. Eventuelle Spoiler. Keine Filmkritik oder Analyse. Eine willkürliche, keineswegs vollständige und bruchstückhafte Ansammlung von Notizen und Beobachtungen, die sich auf die verkürzte, internationale Fassung beziehen. 


Stephen Kings gleichnamiger Gruselroman erweist sich als Vorzeigeexemplar dessen, den Horror des Augenblicks aus der Trivialität des Alltags zu erschließen. "Shining" ist vor allem übernatürliches, ganz und gar ausschweifendes Erzählhandwerk, rational nachvollziehbar(er), da hunderte Seiten zur Charakterisierung der Figuren zu Beginn als melodramatisches Erklärmuster herhalten müssen, um die mysteriösen Geschehnisse zwischen Kontrolle und Wahnsinn, Mystik und Dämonie im Hotel zu erklären. Nicht weniger als die soziopsychologische Dekonstruktion einer normalen amerikanischen Durchschnittsfamilie, die am Abgrund entlangschrammt und doch hineingezogen wird. Ein für den Winterdienst vorgesehener Familienvater in der Gestalt eines neuen Hausmeisters beschwört aufgrund von unzähligen Neurosen aus seiner Vergangenheit letztendlich nur Chaos herauf. Selbstverwirklichung und Selbstzerstörung verbrüdern sich, und aus dieser verwachsenden Mutation bleibt nur der Tod.

Georg Seeßlen hat klugerweise davon geschrieben, dass Stanley Kubricks reichhaltige, experimentierfreudige Genreauswahl mit seiner lebenslangen Obsession für das Schachspiel unmittelbar zusammenhängen könnte. Demnach verstehe es Kubrick, jedem Genre zu einem Schachzug zu bewegen, der vorher nie ausgespielt wurde. Folgerichtig hält sich Kubricks "Shining"-Version nicht sklavisch an die Vorlage, sondern befreit sich von dieser exorbitant, indem all jene Motive eliminiert werden, die Kubricks Bildsprache widersprechen.

Um exemplarisch die Illusion der labyrinthischen Struktur auszubauen, mussten die Heckentiere aus dem Roman gegen einen Irrgarten vor dem Hotel ausgetauscht werden, für die dramaturgischen Zeitschleifen wiederum figurale Beweggründe, die zum Leben erwachenden Gegenstände fehlen vollständig. Übrig bleibt ein Horrorfilm, der nicht wirklich einer ist, eine Romanverfilmung, die nicht wirklich eine ist, ein Genrefilm, der sich an keine Genreregel wirklich hält. Ist es etwa nur noch eine psychoanalytische Emanzipationsparabel von Frau und Kind? Naturalistischer Horror? Ein intellektueller Genrestreifzug? Sicher ist das nicht, aber sicher ist: ein Kubrick-Film. Durch und durch.


"Shining" dürfte neben Kubricks "Lolita" trotz aller nachfolgenden medialen Verwurstung auch als grobe "Twin Peaks"-Blaupause für David Lynch hergehalten haben. Die intertextuellen Verweise schlagen sich in der Tatsache nieder, dass die Randfigur Jerry Horne in der Serie einen Satz direkt aus "Shining" zitiert, zur These, dass Lynch das metaphorische Rot aus Kubricks Film für seine Interieurs, speziell für den Red Room, weiterentwickelt hat, wo der rückwärts sprechende Zwerg, ganz nebenbei, zugleich eine Weiterentwicklung des rückwärts sprechenden Dannys (Danny Lloyd) verkörpern könnte ("REDRUM"), dessen halbschlafähnliche Visionen in Trance schaurig-schön mit dem Grad von Jacks geistiger Verwahrlosung korrespondieren.

Apropos Jack Torrance: ekstatisch, psychotisch und überlebensgroß von Jack Nicholson irrsinnig gespielt ist er, einer, der die Gesetze der Ethik aushebelt und sich auf die roheste, ungeschliffenste Form des Menschsein besinnt, auf das Jagen, auf das Animalische. Der Geist des Hotels manifestiert sich in der fleischlichen Hülle von Jack Torrance, der gezwungen wird zu töten als kaum definierbare Gestalt, zurückgeworfen in die Steinzeit, der sich vielmehr Mächten gegenübersteht, die er nicht zu kontrollieren imstande ist. Leland Palmer aus "Twin Peaks" ereilte ein ähnliches Schicksal, auch Dale Cooper. Auch eine Parallele.

Ins kollektive Gedächtnis der Horrorfilm-Ära haben sich hingegen ikonische Augenblicke wie diese auf immerwährende Zeit eingebrannt: Nicholsons Haifischgrinsen ("Hiiiiiieeeeer ist Jacky!"), während er mit der Axt durchs Badezimmer stürmt, der blutgeflutete Fahrstuhl, die tote Frau aus der Badewanne (wissenswert: das Erotische mutiert hierbei zum Tödlichen, das Körperbetonte zur eventuellen Körperverletzung; Sex und Gewalt, es meldet sich im künstlerischen Schaffensprozess Kubricks zurück). Erschrecken vermag dies wenig, es sind weder besonders hektisch geschnittene noch sensationserhaschende Momente, es sind Momente, die von einer elegischen Ruhe geprägt sind, gleichbedeutend mit dem langsam Spuren hinterlassenden Wahnsinn.


Selbst dort, wo es gruselig sein sollte, transzendiert Kubrick den schaurigen Moment mit Hilfe betörender Ästhetik. Der Film erschreckt ausschließlich und überhaupt sehr, sehr effektiv über die mit zentralperspektivischem Fluchtpunkt hantierende Montage, über die  rhythmischen Steadycam-Fahraufahmen (hinter jeder Abzweigung könnte etwas lauern), die sich ständig im Fluss der Bewegung befinden, den filmischen Raum verflüssigen und sich gegenseitig überlagern, entkoppeln, der strengen Symmetrie des Bildaufbaus anpassen. Außerdem über die Subjektivität der Kamera, die in den Körper der agierenden Charaktere schlüpft. Wir sehen dann, was sie sehen, wir werden zu ihnen.

Unter Berücksichtigung traditioneller Genredogmen gilt es damit, diese zu brechen. Bei Kubrick lauert die Gefahr nicht etwa in der Dunkelheit, um sich blindlings auf ihr Opfer zu stürzen, nein, bei Kubrick lauert die Gefahr im permanent brennenden Licht, in der blendend weiß erleuchteten Räumlichkeit eines Hotels, das ohnehin keine dunklen Ecken zu haben scheint (nicht mal der Keller). Das Licht als Gefahrenmilderung mutiert plötzlich zur Gefahrenforcierung (die wunderschöne Toilettenkulisse!) und entlarvt damit genau genommen die Antithese zur Jahrzehnte überlieferten Mär von der Dunkelheit, die unwiederruflich verschluckt. Kubrick bricht ebenso personell mit den Gesetzen: Dick Hallorann (Scatman Crothers), seines Zeichens der helfende Außenstehende und unfreiwillige Heldentypus, wird in der erstbesten Möglichkeit beseitigt.

Der maßlos scheppernd-abgehackte Soundtrack trägt das Seinige dazu bei, damit sich Zuschauer in diesem Werk erschrecken. Er ist integraler Bestandteil und verengt die Geräusche im Film als suggestive Schreckgeräusche ungemein plakativer, grauenerregender. So imitiert die Musik ein Motorengeräusch des stotternden Motors der "Schneekatze" oder eine abgerissene Schreibmaschinenseite; die (teils neblige) Autofahrt zu Beginn verkörpert aufgrund ihrer geisterhaften Klangteppiche im Hintergrund eine tatsächliche Geisterfahrt. Ungeachtet dessen erschreckt Kubrick augenzwinkernd mit Zeitangaben, wenn die Musik lautstark aufdreht, sobald die Kapiteleinteilungen im Bild erscheinen. Schlitzohr!


Gehen wir etwas unter den Rand der Oberfläche, denn das wirklich Hochinteressante umschließt jene tiefer gelegten Ebenen, die dem Film einen in die Breite gezogenen Fundus thematisch vielversprechender Querverweise fernab des Horrormotivs beschert. Auf den ersten Blick verwurzelt Kubrick "Shining" zwischen einigen wesentlichen Komponenten, von denen Verästelungen abzweigen. Da wäre die Natur. Sie ist majestätisch, überlegen, unkontrolliert, gegenüber dem Menschen hauptsächlich.

Aus jenem Grund, dass Kubrick Naturaufnahmen und damit gepaarte Wetterumschwünge omnipräsent illustriert, verleiht er dem Grauen einen naturalistischen Anstrich. Das Scheitern aller Kommunikation zur Außenwelt wird später maßgeblich vom Wetter abhängig sein. Schnee zerstört die Telefon- und Funkleitungen und verhindert generell ein Entkommen aus dem Hotel. Die Natur ist der zweite Feind, mit dem sich Wendy (Shelley Duvall) und Danny konfrontiert sehen, eine ausweglose Konfrontation, weil der Gegner übermächtig scheint.

Schutz bietet, zumindest bis zu einem gewissen Grad, die Metapher des Labyrinthes. Jack wird in der (labyrinthischen) Küche eingeschlossen, Danny entkommt im (labyrinthischen) Irrgarten und sucht Schutz auf (labyrinthischen) Teppichen, wo er gefährliche Eindringliche abzuschirmen versucht (zum Beispiel in der Szene, als ihm beim Spielen ein Tennisball entgegenrollt). Das Hotel ist labyrinthisch angeordnet – vorwiegend rechtwinklige Abzweigungen während der Plansequenzen zeigen dies. Das Labyrinth ist demzufolge als Schlüsselmotiv zu werten. Einerseits steht es für die Desorientierung, andererseits für die Orientierung, aber auch angesichts seiner erdrückenden Form und begrenzten Größe wegen für die Endlichkeit in der Unendlichkeit.


Den sozialkritischen Gestus des King-Romans, speziell die kapitalismuskritischen Spitzen, spart Kubrick abermals aus, sodass lediglich eine Hülle übrig bleibt. Im Buch konnten wir anhand von zig Seiten die von Gier überschattete Geschichte des Hotels nachvollziehen, im Film hingegen raubt Kubrick der Vorlage ihren Subtext, der vor allem nicht im Dialog ausbuchstabiert wird, sondern subtil mit Porträts, Fotografien, die an den Wänden hängen. Kubrick schwafelt nicht, er erzählt (wieder) ausschließlich über Bilder. Alles, was wir erfahren, ist, dass das Hotel zur Besiedelung auf einem ehemaligen indianischen Begräbnisplatz errichtet wurde.

Das Ablegen jedweder zivilisatorischen Werte (auch der erwähnten "Donner-Gruppe", die zu Kannibalen wurden), um Ureinwohner auszurotten und Landmasse gewaltsam an sich zu reißen, zeigt sich in Jack Torrance, der ebenfalls zivilisatorische Werte abtötet, um seine eigene Familie auszurotten. Die Instrumentalisierung seiner selbst durch des Hotels teuflischer Vertreter (Philip Stone), das Rache für die Indianer, seine wahren Bewohner, geschworen hat? Möglich. Das Indianermotiv ist allgegenwärtig, im Vorratsraum, in der Kleidung Wendys. Schlussendlich überlistet Danny seinen Vater durch einen alten Indianertrick. Indianer, Spiegel, Dopplungen – alles überlappt sich in einer unwahrscheinlich detailreichen inszenatorischen Akribie.

Alles überlappt sich mit zunehmender Dauer, auch narrativ, auch ein Schlüsselmotiv für das Verständnis des Zuschauers. Alles verschachtelt sich ineinander, Raum- und Zeitebenen ergänzen einander, summieren sich sogar einander (zwei tote Frauen im Badezimmer: eine Vision in der Vision der scheinbaren Realität?), das Raum-Zeit-Kontinuum wird dort durchbrochen, wo Realität, Fiktion und Traum, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verschmelzen. Es ist ein ungewöhnlich strukturierter Genrefilm, er ähnelt mehr einem essayistischen Bilderkatalog fragmentarischer Fetzen von Horrorassoziationen, als stringentem Erzählkino.


Das Weglassen der wichtigsten Handlungsanker aus dem Roman ermöglicht es Kubrick, eine zerstückelte Handlung, die einer Zeitspirale gleicht, komplett im Ungefähren divergierender Wahrnehmungsebenen zu verankern, deren sprunghafte Dramaturgie und die harten, bewusst unzusammenhängenden Schnitte (vom jagenden Jack im Finale wird direkt zum erfrorenen Jack geschnitten) ein Höchstmaß an Irritation verursachen.

Irritiert über die Zeit, über den Ort, irritiert über die Quellen des Wahnsinns (wodurch genau wird Jack wahnsinnig?) verschiedener Realitäten, die scheinbar nebeneinander koexistieren, aber ohne kausalen Zusammenhang in symbolischer Verbindung stehen (die Schlusseinstellung?). Wer sieht was? Danny hat Visionen, die ihn davon abhalten sollen, sich ins Hotel zu begeben. Jack hat Visionen, obwohl Jack von seiner Vision aus dem Vorratsraum gerettet wird. Doch keine Vision? Und, kurioserweise, fängt Wendy auch an, Visionen und Wahnvorstellungen zu entwickeln.  Warum? Oder doch nicht?

Vielleicht so: "Shining" erweist sich als Vorzeigeexemplar dessen, ein mehrschichtiger (Kunst-)Horror über die Entgleitung der Außenwelt und die Verzerrung der Wahrnehmung zu sein, bedingt durch die psychisch belastende Situation vom Eingeschlossensein ohne Ausweg. Ein hochkonzentrierter, ein technizistischer Gegenentwurf zu Stephen Kings ausladender und emotionaler Angstmeditation.